„Was machst du mit der unaussprechlichen Wut, die dich von innen auffrisst?“

Eine Veranstaltung im Brückenjahr 2022 zwischen den Städtepartnerschafts-Jubiläen mit Beit Jala und Ganey Tikva

„Was machst du mit der unaussprechlichen Wut, die dich von innen auffrisst?“* – Das fragt sich der Jude Rami Elhanan, nachdem er 1997seine 13jährige Tochter Smadar durch ein palästinensisches Attentat verloren hat. Er trauert, ist verzweifelt, weiß nicht, wie sein Leben weitergehen soll, ist wütend, will Rache. Der Wunsch nach Rache ist allbeherrschend.

Den Empfindungen Ramis gingen am 13. September die Gäste der Lesung aus dem Bestseller „Apeirogon“ von Colum McCann in der Kulturkirche St. Engelbert, Rommerscheid, nach. Achim Dehmel, ehemaliger Pfarrer der Kirche zum Heilsbrunnen, und Heinz-D. Haun, Kulturschaffender in Bergisch Gladbach, lasen Auszüge aus dem Buch, das sich mit dem Nahost-Konflikt und den Protagonisten Rami Elhanan und Bassam Aramin beschäftigt.

Bei der Auswahl der Textauszüge gelang es, eine Dramaturgie entlang der Lebenswege der beiden Titelfiguren zu zeichnen, obwohl der Roman selbst keine chronologische Erzählweise zugrunde legt. So wurden zunächst die unterschiedlichen Lebenswelten des Israelis und des Palästinensers dargestellt, dann die Geschichten über ihre Heirat und Familiengründung, die schließlich in die Berichte über die Tötung der Töchter Smadar und Abir mündeten. Es folgten Einblicke in das Gefühlschaos bei beiden Familien. Die Geschichten der Familien Elhanan und Aramin blieben aber nicht ohne Lösung: Über Friedensinitiativen wie den „Parents Circle“ und die „Combatants for Peace“ konnten sie den persönlichen Verlust besser verarbeiten und schaffen es heute, gemeinsam für ein friedliches Miteinander zu werben. Der Titel der Veranstaltung „Wir begegneten uns als Feinde, die miteinander reden wollten“ beschreibt treffend die ersten Schritte aufeinander zu.

Zurück zu Ramis Rachegedanken. Er bleibt nicht darin verhaftet, sondern fragt sich nach einer Weile, was ihm Rache bringt. Wird Rache seine Tochter wieder lebendig machen? Wird Rache seinen Schmerz lindern? Schließlich entsteht ein neuer Gedanke in seinem Kopf: Warum ist Smadar gestorben? Warum haben die drei Attentäter sich selbst und andere Menschen in die Luft gesprengt? Warum haben sie den Drang, sich selbst zu zerfetzen? Fragen über Fragen verwirren Rami.

Ein Jahr nach Smadars Tod lernt Rami Jitzchak Frankenthal, einen orthodoxen Juden, kennen. Dieser hat seinen Sohn Arik verloren, der als Soldat von der palästinische Hamas entführt und getötet wurde. Jitzchak hat sich nicht für Rache entschieden, sondern den „Parents Circle“ gegründet, in dem sich hinterbliebene Israelis und Palästinenser treffen und für den Frieden arbeiten. Auf seine Einladung hin geht Rami zu einem Treffen. Er glaubt, es könne nicht schaden, diese „Verrückten“* zu besuchen. Was hat er, der schon so viel verloren hat, noch zu verlieren? Rami verliert tatsächlich nichts, aber er gewinnt etwas. Als ein Bus mit palästinischen Hinterbliebenen eintrifft, wehrt er sich innerlich gegen diese Feinde, doch plötzlich erkennt er in dem Schmerz einer Mutter, die ein Foto ihres toten Kindes trägt, seinen eigenen Schmerz. Rückblickend sagt Rami, er habe in einem Sarg gelebt und beim Anblick dieser Frau, die sein Schicksal teilt, sei der Sargdeckel aufgesprungen. Er lernt, das Leid gemeinsam zu tragen – mit Israelis und Palästinensern, mit Juden, Christen und Muslimen, mit Menschen eben. Trauer wird nicht gegeneinander benutzt, sondern einander mitgeteilt und miteinander geteilt.

Bassam Aramin ist Palästinenser. Als junger Mensch ist er radikal. Im Gefängnis sieht er einen Film über den Holocaust. Er empfindet zunächst Freude über jeden getöteten Juden. Schließlich sind die Juden seine Feinde. Doch plötzlich erkennt er die schreckliche Wahrheit dessen, was er dort sieht: Massen von Menschen werden ermordet. Diese Wahrheit erschüttert ihn, und er beginnt über sein Leben, seine Heimat, seine Geschichte und Identität nachzudenken. Ein Gefängniswärter schätzt und unterstützt ihn, wird zu einem Freund.

Nach dem Gefängnisaufenthalt sucht Bassam den friedlichen Weg, den Austausch und die Aussöhnung mit Israelis, mit den Menschen auf der anderen Seite seines Universums. Dieser Weg ist lang. 2005 treffen sich Bassam und Geleichgesinnte heimlich mit ehemaligen israelischen Soldaten im Everest Hotel in Beit Jala, um die „Combatants for Peace“ – die „Kämpfer für den Frieden“ – zu gründen. Einer von ihnen ist Ramis Sohn. So lernen sich die Familien kennen. Der Grundstein für eine nachhaltige Freundschaft ist gelegt.

Und dann wird Bassams zehnjährige Tochter Abir 2007 am Hinterkopf durch ein Gummigeschoss eines 18jährigen israelischen Soldaten getroffen und stirbt an den Folgen der Schädelfrakturen. Der Fall wird nie strafrechtlich ermittelt. Warum hat der Soldat geschossen? Hatte er Angst? Für Bassam ist dieses einschneidende Erlebnis kein Grund, der Gewaltlosigkeit den Rücken zu kehren. Die Familien Elhanan und Aramin durchleiden diese Katastrophe gemeinsam und stärken das Band, das sie zusammenschließt.

Rami und Bassam werden über die Jahre Aktivisten für ein friedliches Miteinander. Sie werden politisch und nehmen kein Blatt vor den Mund. Damit machen sie sich bei keiner der beiden Parteien des Nahost-Konfliktes beliebt. Sie schwimmen gegen einen mächtigen Strom und werden angefeindet, aber sie und ihre Familien arbeiten weiterhin für die Versöhnung von Israelis und Palästinensern. Unermüdlich und unerschütterlich. „Gewalt ist schwach. Hass ist schwach.“ **

Vielleicht ist der Satz des Dichters Rumi das beste Fazit aus dem Erleben und bewussten Entscheiden von Rami und Bassam: „Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort; dort treffen wir uns.“**

Übrigens: Smadar bedeutet „Blüte, Knospe, Zeichen des Frühlings“. Abir bedeutet „Duft der Frühlingsblume“. Abir stirbt im Hadassa-Krankenhaus, wo Smadar geboren wurde. Heute erinnern sich beide Familien gemeinsam an ihre Frühlingsblumen, die den Sommer nicht erleben durften.

Im Juni dieses Jahres waren Rami und Bassam zu Gast in Bergisch Gladbach. Sie haben ihre Geschichten erzählt und auch politisch Stellung bezogen. Die Lesung aus dem Roman „Apeirogon“ hat die Eindrücke vom Juni verdichtet, weil den Ereignissen unmittelbar nachgespürt werden konnte – so als wären die Zuhörerinnen und Zuhörer dabei gewesen. Es war ein Abend voller tiefgreifender Eindrücke, was im anschließenden spontanen Austausch deutlich wurde. Manch einer wusste von Begegnungen zwischen Israelis und Palästinensern im Rahmen der Städtepartnerschaften zu berichten. Es gibt also tatsächlich den Ort jenseits von Richtig und Falsch.

*    McCann, Colum, Apeirogon, Rowohlt, 2020, Kapitel 500 vor Kapitel 1001.

** McCann, Colum, Apeirogon, Rowohlt, 2020, Kapitel 500 nach Kapitel 1001.

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