Zwi Eshed (84) hat als kleines Kind den Holocaust in Holland überlebt. Heute ist die Bergisch Gladbacher Partnerstadt Ganey Tikva sein Zuhause, wo auch seine Tochter mit Familie lebt. Sein Enkel Asif Chen (15) besucht die HaRishonim Junior High School, die den Schüleraustausch mit dem Otto-Hahn-Gymnasium gestaltet. Über die Aktivitäten der Schulen wurde der Kontakt zu Zwi hergestellt (es gab am 27.01.2022 bereits eine Zoom-Schalte zwischen den Partnerschulen, bei der Zwi seine Geschichte erzählt hatte).
Im letzten Jahr bat der Städtepartnerschaft Ganey Tikva-Bergisch Gladbach e.V. Zwi um eine weitere Zoom-Schalte anlässlich des Internationalen Gedenktags an die Opfer des Holocaust im Januar 2023 ein. Da in diesem Jahr das israelische Schulministerium wegen der Corona-Pandemie immer noch keinen Schüleraustausch erlaubt, beschloss Zwi, gemeinsam mit seinem Enkel Asif Bergisch Gladbach persönlich zu besuchen und buchte kurzerhand die Flugtickets. Die Betreiber des Hotel Malerwinkels luden die beiden ein, ihre persönlichen Gäste zu sein.
So kam es, dass Zwi nicht nur am 26.01.2023 bei der Veranstaltung im Rathaus Stadtmitte (Kooperation mit dem Katholischen Bildungswerk Rheinisch-Bergischer Kreis), sondern auch am 27.01.2023 vor rund 160 Oberstufenschülerinnen und -schülern des Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums von seiner Rettung vor der Vernichtung und aus seinem Leben erzählen konnte.
Versteckt in Holland
Zwi Esheds Geschichte ist eine zutiefst traurige und gleichzeitig schöne Geschichte. Herman Obstfeld, so sein ursprünglicher Name, wurde 1939 in Amsterdam in eine jüdische Familie geboren und erlebte die Verfolgung durch die Nazis als „Sohn“ der holländischen Familie Posthumus in Holland. Diese Familie und die Dorfgemeinschaft retteten sein Leben. Am Ende des Nazi-Terrors hatte Herman zwei Familien, „Mami“ und „Papi“, die den Holocaust ebenfalls überlebt hatten, aber auch eine niederländische „Mutter“ und einen niederländischen „Vater“. In all dem Schrecken und Leid für ihn eine lebenslange Bereicherung. Zwi wurde später erzählt, es sei vorgekommen, dass er laut ausgerufen habe: “ Mami, Mami, da kommt Mutter!“
Da Zwi seine Geschichte bereits im Januar 2022 anlässlich der Video-Schalte zwischen den am Schüleraustausch beteiligten Schulen, dem Otto-Hahn-Gymnasium und der HaRishonim Junior High School, gehalten hatte, gibt es bereits unter folgendem Link einen Bericht:
Die Enkelgeneration
Seinem Vortrag aus dem letzten Jahr hat Zwi nun einen Brief an seine Enkelin Mika angefügt:
Vor fünf Jahren nahm meine älteste Enkelin, Mika, an einer Schulreise nach Polen/Auschwitz teil, die in Israel sehr üblich ist. Ich wurde gebeten, einen Brief zu schreiben, den ich ihr mitgeben sollte. Ich habe diesen Brief übersetzt und werde ihn Ihnen jetzt vorlesen:
18. Februar 2018
Meine liebste Mika,
Wenn du diesen Brief liest, wirst du in Polen sein, um Vernichtungslager zu besuchen, die Deutschland in Polen gebaut und betrieben hat. Einige Leute glauben, dass die Deutschen diese Lager in Polen gebaut haben, weil sie dachten, dass die polnische Bevölkerung, die als besonders antisemitisch bekannt war, nichts dagegen haben würde, dass sie dort sind. Andere meinen, dass die meisten europäischen Juden in Polen oder in der Nähe von Polen lebten und dass logistische Gründe die Standorte diktierten. Ich denke, beide Gründe sind richtig.
Wie du weißt, lebte meine Familie während des Holocausts in Holland, und viele meiner Verwandten wurden in die Vernichtungslager geschickt und dort ermordet. Die folgende Liste ist nur ein Teil davon:
Dein Ur-Ur-Ur-Großvater Moshe Rabbi
Dein Ururgroßvater Selig Obstfeld
Deine Ururgroßmutter Hadassa Dresden (Tochter von Moshe Rabbi)
Der Sohn von Selig Obstfeld, Leon Obstfeld, und seine Frau Margareta
Der Sohn von Selig Obstfeld, Joshua Obstfeld, und seine Frau Ester
Der Sohn von Hadassa Dresden, Jaques Dresden, und seine Frau Matilda
Der Enkel von Selig Obstfeld, Marco Obstfeld
Mika, ich habe keine Worte, um dir zu sagen, wie ich mich gefühlt habe, als ich diese Liste geschrieben habe. Ich habe geweint (und erneut, als ich sie für diese Veranstaltung übersetzt habe).
Menschen haben den Holocaust geplant und Menschen haben ihn ausgeführt. Wenn Menschen diese Gräueltaten begehen konnten, sind alle Völker dazu in der Lage, wenn die Umstände es zulassen. Die Lehre daraus ist, immer wachsam zu sein, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert.
Wir Juden und Israelis neigen dazu, zu behaupten, dass der Holocaust nur uns gehört, und das stimmt, was die organisierte und „industrialisierte“ Art und Weise betrifft, in der er durchgeführt wurde, aber seit „unserem“ Holocaust hat es noch eine Reihe anderer Völkermorde gegeben, zum Beispiel in Afrika, Biafra und Burundi, und kürzlich in Bosnien und gerade jetzt in Myanmar, und die Welt hat geschwiegen und schweigt und wird offenbar auch beim nächsten Völkermord still sein.
Während des Holocausts hatte das jüdische Volk nicht die Mittel, sich zu wehren, aber wo es konnte, hat es sich gewehrt, zum Beispiel im Vernichtungslager Sobibor und im Warschauer Ghetto und in den Widerstandsgruppen im Untergrund.
Wir haben jetzt ein Land, das in jeder Hinsicht stark ist. Wir und deine Generation müssen es verteidigen und stärker machen und dafür sorgen, dass wir es nicht durch ungerechtfertigten Hass verlieren.
In Liebe
Großvater Zwi
Zwis Botschaft
Zwis Brief an seine Enkelin ist zugleich auch seine Botschaft an alle Menschen heute. Die gleiche Botschaft sendet auch sein Enkel Asif, denn auch junge Israelis machen sich Gedanken über die Vergangenheit und Zukunft.
Asif stellt sich selbst aber auch seinen Zuhörerinnen und Zuhören die Frage, was ein Mensch ist. Er bittet darum, nach rechts und links zu sehen, um dort den Menschen wahrzunehmen. Russen seien Menschen, wie auch Ukrainer, und selbst Nazis seien keine Monster, sondern Menschen gewesen. Menschen könnten Böses und Gutes tun. Die Nazis hätten seinem Volk unglaublich Böses und Unverzeihliches angetan. Sie hätten das Bose gewählt. Auch wir heute könnten wählen. Asif fordert uns alle auf, das Gute zu tun.
Julian Sebode und Tobias Müller (Techniker der Kirche zum Heilbrunnen) haben den Abend auf YouTube gestreamt. Der Film (mit der Moderation von Lutz Urbach, der Rede von Bürgermeister Frank Stein, der deutschen Übersetzung und wunderbarer Klezmermusik von den „Zitrönchen“) findet sich hier (Bitte beim Anschauen nicht aufgeben, die ersten Minuten sind holprig, dann wird es besser! Der Abend wurde über den YouTube-Kanal der Kirche zum Heilsbrunnen gestreamt, daher das Gottesdienst-Logo):
Am 27.01. im Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium
Zwi und Asif hielten zunächst die gleichen Ansprachen wie am Vorabend vor den Oberstufen-Schülerinnen und Schülern des Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums. Im Anschluss durften Fragen gestellt werden. Eine Schülerin erkundigte sich bei Zwi nach dem Grund für seine Auswanderung nach Israel. Zwi erklärte, dass er nie wieder eine solche Abhängigkeit erleben wollte wie seinerzeit in seinem Versteck bei der Familie Posthumus. Sein Leben habe davon abgehangen, dass andere Menschen gut zu ihm waren. Eine Heimat, in der er bedingungslos als Jude respektiert werde, in der er unabhängig und in größtmöglicher Sicherheit leben könne, finde er nur in Israel. Als zweiten Beweggrund beschrieb er unter Tränen die jahrtausendealte Sehnsucht der Juden nach Jerusalem, die bereits in der Heiligen Schrift (Prophet Jeremia 51, 50) beschrieben wird und auch heute noch in der Seele der meisten Juden fest verankert ist: „Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, soll mein rechte Hand verdorren.“
Was bleibt, das sind außergewöhnliche Erinnerungen
Die Tage des Besuchs waren für Zwi und Asif, aber auch ihre deutschen Begleiterinnen und Begleiter spannend und ausgefüllt. Zwi sagte einmal: „Ich wusste ja nicht, was auf mich zukommen würde.“ Zugekommen sind auf ihn und seinen Enkel eine Fülle von Eindrücken, nachdenkliche aber auch fröhliche Zeiten, Abendessen in Familien, Besuche im Schloss Bensberg, in Theas Theater und im Heimatmuseum, Empfänge bei Bürgermeister Frank Stein und der Städtischen Galerie Villa Zanders, die Besichtigung des Ganey Tikva-Platzes und des Beit Jala-Platzes, andere Sehenswürdigkeiten in Bergisch Gladbach und Köln, dichter Nebel, ein paar Schneeflocken, Sonnenstrahlen am Samstag und viele interessante Gespräche über „Gott und die Welt“ (im wahrsten Sinne).
Vielleicht war der Besuch der großen Kostümsitzung der Fidelen Böschjonge (un Mädche) Bärbroich der Höhepunkt der Fröhlichkeit. Zwi und Asif konnten den rheinischen Frohsinn aus nächster Nähe erleben, wurden sogar vom Dreigestirn auf die Bühne geholt und mit dem Prinzenorden geehrt. Beide waren so angetan vom jecken Treiben, dass sie beschlossen, unbedingt zur Karnevalszeit noch einmal zurück nach Bergisch Gladbach zu kommen und ihre Familie mitzubringen. Asif war besonders beeindruckt, dass “alte“ Menschen fröhlich waren, gelacht und Witze gemacht haben. Das hatte er von den vermeintlich förmlichen und steifen Deutschen nicht erwartet.
Nun sind beide wieder wohlbehalten in Ganey Tikva angekommen und können die vielen Eindrücke verarbeiten. Wir alle freuen uns auf ein Wiedersehen, entweder in Ganey Tikva oder in Bergisch Gladbach.