Eine Veranstaltung des Städtepartnerschaft Ganey Tikva – Bergisch Gladbach e.V.
„Das ging unter die Haut,“ erklärte ein Gast nach der Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer des Holocaust am 26.01.2022 in der Kirche zum Heilsbrunnen. Neben den Reden von Lutz Urbach, Vereinsvorsitzender, und Frank Stein, Bürgermeister, übernahmen Claudia Timpner, Heinz-D. Haun und Holger Faust-Peters die weitere Gestaltung des Abends mit aufrüttelnden Texten, die auf den Holocaust zurückblicken ließen, aber auch mit Geschichten aus der Gegenwart und mit der passenden Musik auf der Viola da gamba und dem Cello.
Wie soll man dieses tiefgreifende und berührende Erlebnis beschreiben? Es ist kaum möglich, die Vielgestaltigkeit und die Dichte der Eindrücke wiederzugeben. Waren es die Rückblicke auf den Holocaust oder die vielen anderen Texte und Gedichte aus unserem heutigen Erlebenshorizont – sie alle sprachen in die Seele und hielten ab und an den Zuhörerinnen und Zuhörern auch den Spiegel vor. Nicht umsonst überlegte Pfarrer Achim Dehmel zum Schluss der Veranstaltung, dass diese Gedankenfülle den Einzelnen und unsere Gesellschaft tagtäglich beschäftigen müsste, nicht nur an einem solchen Abend.
In seiner Begrüßung stellt Lutz Urbach, Vereinsvorsitzender, verschiedene Klischees des Judenhasses dar, die sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben: „Will ich Antisemitismus heute verstehen, dann muss ich die Geschichte der Judenfeindschaft kennen. Der heutige Antisemitismus greift nämlich alte Klischees auf und aktualisiert sie. Wer von uns ist dem Klischee des geldgierigen, unehrlichen Juden nicht schon in seinem persönlichen Umfeld begegnet?“
Lutz Urbach verweist auf die die Fotoausstellung „Zusammenhalt in Vielfalt – Jüdischer Alltag in Deutschland“, die am gleichen Abend eröffnet wird. Sie setze einen Kontrapunkt gegen den heutigen Antisemitismus, weil die zehn preisgekrönten Fotos Szenen aus dem jüdischen Leben im heutigen Deutschland zeigen: „Wir in Bergisch Gladbach wollen damit öffentlich erklären, dass Jüdinnen und Juden zu uns gehören – hier in Deutschland und dort in Ganey Tikva. Sie sind Menschen wie du und ich. Sie leben ihren Alltag, manche leben auch ihre Religion. Sie tragen Sorgen, sie haben Freude. Die Jüdinnen und Juden, die ich kenne, wollen nichts Besonderes sein, sie wollen weder positiv noch negativ aus der Masse hervorgehoben werden. Sie sind ganz einfach Freunde, Nachbarn, Bekannte, Arbeitskollegen. Jüdisches Leben ist normal – in Deutschland und auf der Welt! Das ist unsere Botschaft am internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust.“
Im Anschluss an eine Gedenkminute dankt Bürgermeister Frank Stein für die Gestaltung des Gedenkens an die Opfer des Holocausts durch die Akteure des Vereins, denn dieses Erinnern sei ein wichtiges Anliegen der Stadtgesellschaft. Frank Stein verweist auf ein Fernsehspiel, das er kürzlich gesehen habe; es ging um die „Wannseekonferenz“ am 20.01.1942, bei der in geschäftsmäßigem Ton die Deportation und Massenvernichtung von Jüdinnen und Juden beraten wurde. Wie in einer normalen Verwaltungssitzung seien Erfahrungen und Meinungen zur „Beseitigung“ von jüdischen Menschen völlig emotionslos geteilt worden, als habe man nur über eine unbedeutende Sache zu sprechen. Diese Darstellung der Wannseekonferenz habe ihn erschüttert zurückgelassen, bekennt Frank Stein. Die abgrundtief hässliche Botschaft von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass sei aber auch heute latent vorhanden und tarne sich mit der Maske des Bürgerlichen.
Danach tragen Claudia Timpner und Heinz D. Haun ihre beeindruckende Textauswahl vor. Da geht es zunächst um den Hirten, der die Schafe vor den Wölfen schützen will, aber die Wölfe sich ja schon mitten unter den Menschen (Brigitte Schär: Der Hirte1). Anschließend lässt Holger Faust-Peters mit dem Cello den 5. Satz aus der Sonate für Cello solo von Paul Hindemith erklingen. Jede und jeder fühlt nach, wie die Wölfe losgelassen sind.
Die Erinnerung „Der rote Ball“ von Inge Deutschkron2 führt die Gedanken nun direkt nach Auschwitz: Eine KZ-Aufseherin bringt eine Gruppe von Kindern zur Gaskammer, fordert sie auf, sich für das „Bad“ auszuziehen. Ein Mädchen hat einen roten Ball, damit spielen die Kinder. Dann müssen sie sich beeilen, die Treppen zum „Bad“ hinunterzukommen. Einem Kleinkind hilft die Aufseherin, es fühlt sich auf ihrem Arm wohl. Am Fuß der Treppe biegt sie zum Krematorium ab und kommt ohne das Kind zurück. Vor dem Krematorium bleiben die Kinderkleider und der rote Ball zurück.
Und auch der zweite Leseblock wird musikalisch von Holger Faust-Peters mit dem „A solo (Tombeau)“ von Paolo Pandolfo aufgegriffen. Die Töne auf der Gambe klingen sperrig, aber das soeben Vorgelesene liegt ja auch noch sperrig auf der Seele.
Mit den folgenden Texten geht es vermehrt in die Gegenwart. Renan Demirkan fordert in „Schluss mit Leugnen und Wegsehen!“ 3, dass unsere Gesellschaft ihr Handeln überdenkt und lernt, den Rassismus beim Namen zu nennen, denn dieser ist mitten in der Gesellschaft.
Demirkan sorgt sich um den Kampf der neuen Nazis gegen die offene Gesellschaft. Kein Mensch sei als Rassist geboren worden, er werde durch die Sprache und das Handeln anderer Menschen dazu gemacht. Dementgegen hält sie Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Satz müsse im Alltag gelebt werden. Nur so habe der Rassismus keine Chance.
Carolin Emcke betrachtet im Vorwort ihres Buches „Gegen den Hass“ 4 das schlimmste Gefühl des Menschen, das heutzutage in Deutschland wieder offen gezeigt werde. Das Internet biete dafür eine Plattform, auf der roh, unverhohlen und unter eigenem Namen gehetzt und gehasst werde. Sie arbeitet heraus, dass der Hass immer ungenau bleibe, denn wer präzise auf andere Menschen sehe und ihnen zuhöre, der könne nicht mehr gut hassen. Hassen könne nur, wer die individuellen Konturen abschleife und auf ein Kollektiv reduziere. – Das erinnert an manche Hassrede gegen „die Juden“ im Dritten Reich.
Der Kreis schließt sich, als Holger Faust-Peters auf dem Cello „Worries“ aus „New Klezmer Tunes“ von Joachim Johow vorträgt. Die Anleihen an die melancholische und doch auch hoffnungsvolle Klezmer-Musik sind unüberhörbar. Ein schöner musikalischer Abschluss des Gedenkens an das Leid jüdischer Menschen.
Am Ende angekommen herrscht Stille im Raum, dann folgt zögerliches Klatschen aus den Reihen der Gäste. Darf man bei einer solchen Gedenkveranstaltung klatschen? Ja, man darf, wenn man zeigen möchte, wie sehr die Veranstaltung berührt hat, wenn man für diese Dramaturgie der Texte und der Musik danken möchte, die eben „unter die Haut gegangen ist“.
1 Brigitte Schär: Der Hirte; erschienen 1991 in der Geschichten-Sammlung „Auf dem hohen Seil“
2 Inge Deutschkron: Der rote Ball; erschienen 1992 in dem Band „Aufbau nach dem Untergang“ von A. Nachama und J.H. Schoeps
3 Auszüge aus dem Essay von Renan Demirkan: Schluss mit Leugnen und Wegsehen! erschienen am 24.02.2020 im Kölner Stadtanzeiger
4 Auszüge aus dem Vorwort von Carolin Emcke: Gegen den Hass; erschienen 2016; wurde weltweit in über 10 Sprachen übersetzt.