Zum Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht und zum Zeichen gegen den Antisemitismus heute trafen sich rund 90 Menschen um das Holocaust-Mahnmal in der Stadtmitte. Lesen Sie im Folgenden die Beiträge der Schülerinnen und unseres Vorsitzenden Willy Bartz:
Wortbeitrag von Schülerinnen der Integrierten Gesamtschule Paffrath (IGP) am Holocaust-Mahnmal im Park der Villa Zanders zur jährlichen Gedenkveranstaltung der Opfer der Reichspogromnacht des 9. November 1938
Lisa-Marie Schröder, Laura Steinhoff und Charlotte Zimmer, Schülerinnen aus dem Jahrgang 11/EF der IGP, lesen am 87sten Gedenktag der Reichspogromnacht 1938 Ausschnitte aus Texten. Charlotte beschließt den Sprechvortrag mit ihren eigenen Gedanken zu den vorgetragenen Texten. Fragen, die sie sich und Gedanken, die sie sich und die sich heute auch andere junge Menschen machen … Fragen, die Antworten und eine gemeinschaftliche starke Haltung brauchen.
Sprechvortrag:
Dem Naziterror ausgeliefert
Leonie (»Nelly«) Sachs war das einzige Kind wohlhabender jüdischer Eltern. Ihr größter Wunsch war, Tänzerin zu werden, aber sie begann auch früh zu schreiben. Viele von ihren späteren Gedichten kreisen um den »toten Bräutigam«, der 1940 von der Gestapo verhaftet und später ermordet wurde. Am 16. Mai 1940 kamen Nelly und Margarete Sachs mit dem letzten Flugzeug aus Berlin in Stockholm an … der Vater war 1930 gestorben. Während der harten Arbeit des Überlebens und der anstrengenden Pflege der kranken Mutter begann sie, Gedichtzyklen und szenische Dichtungen zu schreiben. Trotz ihrer großen Produktivität wurde Sachs bis Ende der 1950er Jahre in der Bundesrepublik ignoriert. 1965 bekam sie als erste Frau den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 1966 als erste und bis 2009 einzige deutsche Dichterin/Schriftstellerin den Nobelpreis.
Die Nationalsozialisten enteignen die Häuser der Familie Sachs. Fast ohne Einkommen leben Mutter und Tochter in einem möblierten Zimmer und warten auf die Möglichkeit zur Ausreise oder auf die Deportation. Mehrfach wird die Dichterin zur Gestapo vorgeladen. Eines Morgens dringen SA-Leute in ihre Wohnung ein und plündern sie aus.
Dazu schrieb Nelly Sachs:
Es kamen Schritte. Starke Schritte. Schritte stießen an die Tür. „Sofort!!“ sagten sie: „Die Zeit gehört uns.“
Die Tür war die erste Haut die aufgerissen wurde.
Die Haut des Heims.
Dann fuhr das Trennungsmesser tiefer.
Und dies geschah auf der Erde.
Unter Bedrohung leben: im offenen Grab verwesen ohne Tod.
Das Gehirn fasst nicht mehr.
Hier ist nichts mehr zu fassen, hier nicht!
Alles dahin gelebte – Hier.
alles dahin geliebte – Hier.
Gnade des Nicht-mehr-sein-Dürfens.
Höchster Wunsch auf Erden:
Sterben ohne gemordet zu werden.
Ein Gedicht:
Völker der Erde.
Zerstöret nicht das Weltall der Worte,
zerschneidet nicht mit dem Messer des Hasses
den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.
Völker der Erde.
O dass nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt.
Und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht.
Völker der Erde,
lasset die Worte an ihre Quelle
denn sie sind es, die die Horizonte
in die wahren Himmel rücken können.
(Autor unbekannt)
Meine Gedanken dazu:
Komische Blicke,
Beschimpfungen,
Gedemütigt auf offener Straße, verfolgt, gefangen und ermordet.
Verhaftet ohne Grund.
Tausende unschuldige Menschen jüdischen Glaubens sind in der Nacht vom 9. auf den 10.November grausam ermordet worden.
Warum muss die Welt so sein?
Warum immer und überall Hass?
Jeder kann sich unter Hass etwas vorstellen.
Beleidigung, Gewalt, Bloßstellung.
Doch was in dieser Nacht passiert ist, ist viel mehr.
Es ist Entmenschlichung.
Ein Gefühl von Grausamkeit.
Ein Gefühl, dass bis auf die Knochen geht.
Alte Frauen und Männer.
Erwachsene. Jugendliche. Kinder. Babys. Menschen.
Aber warum sag ich das alles?
All diese schweren Worte, die doch eigentlich nichts ändern. Oder?
Nein.
Ich kann nicht ändern, was damals passiert ist, und ich allein kann auch nicht verhindern, dass es nochmal passiert.
Aber WIR können das.
WIR als eine Gemeinschaft.
Weil ich will, dass die damals mundtoten Seelen wenigstens heute gehört werden.
Wir können um die Verstorbenen trauern und ihnen die Wertschätzung und den Respekt geben, den sie damals gebraucht hätten.
(Charlotte Zimmer)
Presentation students in English
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Kreutz,
sehr geehrte Damen und Herren,
Heute jährt sich zum 87. Mal die Reichspogromnacht. In jener Nacht tolerierte, nein organisierte das NS-Regime einen Mob von Regimetreuen und Angehörigen von SA, SS und Gestapo, dass diese das Eigentum deutscher Staatsangehörigen zerstören sollten, die dem jüdischen Glauben angehörten. In jener Nacht kamen nach neuster Forschung bis über 1.300 Menschen durch Gewalt des NS-Regimes ums Leben.
In der Nachbesprechung sagte Herman Göring: „Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet.“ In dieser Aussage steckt das, was der deutsch-israelische Historiker Avraham Barkei als Ende der Illusion der Schönzeit bezeichnete, indem die „Arisierung“ in ihre finale Phase überging und am Ende in die Shoah mit mehr als sechs Millionen ermordeten jüdischen Deutschen und Europäern.
Und heute? Heute befinden wir uns in einer Phase der Unsicherheit. Seit dem 7. Oktober 2023 ist die jüdische Kultur, ist das Leben von unseren jüdischen Mitmenschen nicht nur latent bedroht, sondern es wird objektiviert.
Sei es durch Kundgebungen, in denen „from the river to the sea“ gesungen und damit das Existenzrecht des Staates Israel für Null und Nichtig erklärt wird.
Sei es durch den Anschlag in Manchester am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, als eine Person in die Synagoge eindrang, zwei Menschen ermordete und mehrere verletzte.
Sei es, dass in Deutschland unsere Synagogen so weit bewacht werden, dass Schülerinnen und Schüler auf Gedenkstättenfahrten erstaunt fragen, ob dies immer so sei, oder dass sie mitbekommen, wie eine Gruppe von Grundschülern auf dem Weg zur Sporthalle von Personenschützern eskortiert wird.
Sei es, dass wir nicht einmal mehr die Flagge des Staates Israel hissen können, ohne Angst zu haben, dass diese abgerissen und geschändet wird.
Sei es, dass dem Staat Israel vorgeworfen wird, er betreibe seit seiner Gründung Kolonialismus und führe einen Genozid durch.
Lizy Delaricha, unsere Freundin und Bürgermeisterin von Ganey Tikva, hielt am 7. Oktober 2025 eine beeindruckende Rede. In dieser sagte sie „Mehr als zwei Jahre lang tragen wir einen unvergleichlichen Schmerz. Trotz dieses erschütternden Verlustes blicken wir nach vorne. Das ist unser Weg als Volk und als Gesellschaft: Erinnern, Lernen, Wiedergutmachung – und niemals die Hoffnung aufgeben.“ – zwei Jahre, in denen Israel um sein Überleben kämpft, auch wenn die Mittel hart erscheinen mögen. Aber wir hier Deutschland kennen die Situation in Israel nicht wirklich. Wir wissen nicht, wie es sich tagtäglich anfühlen muss, dass eine akute Gefahr oder ein Ereignis eintritt, bei dem die eigene Familie oder gar man selbst verletzt oder getötet wird.
Ertragen wir täglich die Ungewissheit, dass Freunde, Verwandte oder gar der eigene Ehepartner sein Leben dafür einsetzt, dass ein Staat seine Existenz behalten darf? Nein, dies ertragen wir nicht.
So ist es auch für uns schwer zu begreifen, wie sich damals unsere deutschen Mitbürger gefühlt haben, als das NS-Regime sie wegen ihres Glaubens aus der Gesellschaft drängten, ihnen ihr hart erarbeitetes Eigentum nahmen und sie dann zu Objekten abstuften.
Unsere gute Freundin Ruthy Vortrefflich sagte einmal zu Susanne Schlösser: „Ihr wisst nicht, wie es sich anfühlt, in den Schuhen von Israelis zu gehen.“ Und ja, sie hat absolut Recht. Wir wissen es nicht, und wenige können dies erahnen. Es gibt und gab Personen in meinem Leben, die ihre jüdischen Wurzeln aus Angst vor Anfeindungen verheimlichten; damit versteckten sie ein Teil ihrer Identität und Geschichte – und ich habe nun so viele Fragen, die mir keiner mehr beantworten kann.
Es ist unsere Pflicht, dass wir heute, am Tag der Reichspogromnacht, daran erinnern, dass an diesem Tag mehr als 1400 Synagogen und Betstuben zerstört wurden; dass an diesem Tag mehr als 7.500 Geschäfte und Wohnungen geplündert, verwüstet oder zerstört wurden; dass mehr als 30.000 Männer jüdischen Glaubens oder die im Verdacht standen, diesen Glauben zu praktizieren, in Konzentrationslager verschleppt und dort gedemütigt, gefoltert oder sogar getötet wurden; dass unzählige Schulen, Altenheime und sogar Friedhöfe geschändet wurden.
Unsere Verantwortung gegenüber den noch Überlebenden und den Nachkommenden, ist es, dass wir am heutigen Tag daran erinnern und alles in unserer Kraft Stehende unternehmen, dass die latente Gefahr zurückgedrängt wird. Damit unsere Mitbürgerinnen und Mitbürgern jüdischen Glaubens so etwas nicht noch einmal erleben müssen.
Lassen Sie uns an dieser Aufgabe nicht scheitern!
(Willy Bartz

